Spiel: die Energie des Unbekannten
Text und Illustrationen von Zack Wood
31. März 2016
Ins Spiel tanzen
Stellen wir uns als erstes ein Straßenfest vor, eine kleine Straße voller Menschen, die feiern, essen, lachen und reden. Plötzlich ist in der Ferne der unverkennbare Klang einer Metallglocke zu hören, gefolgt von einem Trommelecho. Ein einfacher Rhythmus und eine kaum hörbare Melodie, die lauter wird, als sich die Musik nähert, den Hügel heraufkommt und um die Kurve in die Straße einbiegt. Und da ist sie, bewegt sich langsam durch die Gasse, ein Wesen, das in allen, denen es begegnet, eine solche Lebenslust entfacht, dass sie einfach tanzen müssen.
Das Wesen, eine echte Lebensfreude-Maschine, heißt Awa Odori und ist ein japanischer Fest-Tanz. Ich hatte 2010 Gelegenheit, diesen Tanz mit einer Gruppe Studenten der Kyoto Seika University einzuüben und aufzuführen. Es war ein bewegendes Erlebnis voller Energie und Spiel, das ich nicht ganz verstand und über das ich noch einige Zeit immer wieder nachdachte.
Die meisten Japaner kennen den Tanz selbst gut, denn er wird bei verschiedenen Festivals aufgeführt, besonders beim großen Sommerfest Obon. Ein Zug von Awa-Odori-Tänzern schafft also sofort einen Raum, der den Menschen vertraut ist und gleichzeitig eindeutig außerhalb des Alltäglichen steht, da er mit Feiern und Festlichkeiten verbunden wird. (In der Spieltheorie nennt man das den „magischen Kreis“.)
Im Wesentlichen besteht der Tanz aus einer Reihe von Vorwärtsschritten und verschiedenen Handbewegungen, die immer wieder wiederholt werden, wodurch sich die Tänzergruppe die Straße entlang bewegt. Über längere Zeit ist es natürlich anstrengend, Awa Odori zu tanzen, außerdem bedarf es einiger Übung, die Schritte richtig zu beherrschen, daher verbrachten wir viele Nachmittage und Abende mit Üben. Da der Tanz jedoch auch unleugbar einfach ist und sich immer wiederholt, ist die Hemmschwelle für alle, die mittanzen wollen, sehr niedrig.
Das zweite Kernelement des Awa Odori ist seine Ruf-Antwort-Form: Einer der Tänzer ruft eine Phrase, die von der Gruppe (und Teilen der Menge) beantwortet wird. Es gibt eine kleine Anzahl von Phrasenpaaren, die immer dann gerufen und zurückgerufen werden, wenn jemand den Drang verspürt, den ersten Teil zu rufen.
Die repetitive Bewegungsfolge des Tanzes – die noch dazu gründlich eingeübt wird – bedeutet, dass die Tänzer nicht darüber nachdenken müssen, was als Nächstes kommt, sodass sie sich mehr auf das Hier und Jetzt konzentrieren können. Als Tänzer kann man so viel mehr Ausdruckskraft in jede Bewegung fließen lassen und dadurch ein Maß an Intensität erreichen, das in normalen Situationen nicht möglich wäre. Mit diesem Eindringen ins Unbekannte geht ein Gefühl der Verletzlichkeit einher, das den Rausch, von dieser rufenden und gegenrufenden Menge mitgetragen zu werden, noch mächtiger werden lässt.
Spielen zur Spielentwicklung
Unser Ansatz als Team basierte also auf intrinsischer Motivation und der klaren, von allen geteilten Idee, dass sich die kreative Entwicklung auf eine Weise vorantreiben ließ, die uns immer wieder neue Energie schenkte. Für mich war die ganze Woche von einer positiven Spannung gekennzeichnet, die während der produktiven Phasen ebenso zu spüren war wie in den Entspannungspausen. Es war ähnlich wie bei Kindern, die auf der Rutsche spielen und für die das Hinaufklettern an der Leiter genauso spannend ist, wie das eigentliche Hinuntersausen auf der Rutsche.
Man kann es auch so beschreiben: Wir hatten die Schnittmenge unserer verschiedenen Sichtweisen gefunden und darauf aufgebaut, um aus diesem gemeinsamen Feld heraus etwas Neues zu schaffen und dabei die Sichtweise jedes Einzelnen zu erweitern. Und genau wie beim Awa Odori hallte das Gefühl von Ruhe und Freude noch eine ganze Weile nach der eigentlichen Veranstaltung nach.
Spiel und die Freude an der Verwirrung
Stellen wir uns als letztes vor, dass ein Wesen aus einer anderen Dimension in unserem Wohngebiet erscheint. Man sieht es nicht, doch seine Anwesenheit ist immer spürbar. Jeder Passant fühlt es deutlich, als hätte er eine Grenze überschritten oder als wäre ein Schalter umgelegt worden.
Ungewiss, wer Darsteller war und wer nicht, wagte ich mich selbst in den Lichthof, während der Gesang sich langsam zu einem intensiveren Rhythmus verdichtete, der improvisiert schien, doch von den verdeckten Interpreten in unsere Mitte sehr geübt und koordiniert gesungen wurde. Dann plötzlich bewegten sich die Darsteller singend und tanzend aufeinander zu, sodass klar wurde, wer Interpret und wer Publikum war.
Die Sänger sammelten sich an der Treppe auf der einen Seite des Lichthofs und verschwanden einer nach dem anderen in einem dunklen Durchgang. Mit der schwindenden Anzahl von Darstellern und Zuschauern wurde es im Lichthof immer stiller und die Atmosphäre intimer. Schließlich stand nur noch eine junge Frau auf der untersten Stufe und sang, umringt von einigen wenigen Ausstellungsbesuchern. Schließlich trat auch sie durch die schwarze Tür, und ich folgte ihr.
Schließlich verließen die Darsteller den dunklen Raum und bewegten sich zur großen Eingangstreppe, wo sie den letzten Akt aufführten, ein Gesangs- und Tanzduell. Zum ersten Mal konnte ich sie deutlich und aus der Nähe sehen, bevor sie ihre Darstellung beendeten.
Als ich aus dem Museum heraustrat, war ich wie benommen, verwirrt durch das Verwischen der Grenzen zwischen Zuschauern und Darstellern. Ich fragte mich, was es bedeutet, wenn etwas „Teil der Performance“ ist und wie sich das vom „Realen“ abgrenzt. Außerdem war ich zutiefst beeindruckt davon, wie Tanz und Gesang es geschafft hatten, dass Fremde in diesem öffentlichen Raum miteinander in Beziehung traten. Was geschehen war, war Folgendes: Die Darsteller hatten spielerische Strukturen geschaffen, die eine Art Neubetrachtung und Neubewertung ermöglicht hatten, sodass es mir wie die natürlichste und schönste Sache der Welt vorkam, meine Perspektive und Erwartungen zu verändern. Und auch dies Erlebnis, mehr noch als die beiden vorigen, hinterließ in mir ein überwältigendes Gefühl von Ausgeglichenheit, Ruhe und Wärme.
Spielfördernde Strukturen
So unterschiedlich diese Erlebnisse waren – mal aktiv, mal passiv, mal greifbar produktiv und dann wieder vollkommen unfassbar, gemeinsam mit Freunden oder unter Fremden: Die Strukturen, aus denen sie alle entstanden, weisen erstaunliche Ähnlichkeiten auf.
Weiterhin weisen viele Spieltheoretiker darauf hin, dass Spiel immer freiwillig ist. Es kann nicht erzwungen werden. So bot auch jedes der oben genannten Beispiele die Möglichkeit zur Teilnahme – einen sicheren Raum, in dem jeder selbst bestimmen konnte, wie sehr man sich auf das Spiel einlassen wollte. Beim Awa Odori entstand durch die Unterstützung der anderen Tänzer und die Tatsache, dass der Tanz und seine Bedeutung allen vertraut waren, ein Raum, in dem jeder Einzelne gefahrlos „außer Kontrolle“ geraten konnte. Die gemeinsame Vision der Gruppe, die zu Klarheit bei gleichzeitiger Flexibilität führte, und die streng eingehaltenen Erholungspausen eröffneten uns Spieleentwicklern in Schweden die Möglichkeit, das Unbekannte zu erkunden und dabei Neues zu entdecken. Und die offene Einladung von Seghals Darstellern, ihnen durch das Museum und über die verschwommenen Grenzen der Performance zu folgen, erlaubte es uns Zuschauern, uns sicher und ohne Unbehagen der anregenden Verwirrung unserer Erwartungen hinzugeben.
Ich denke, dies ist der Kern des Spiels: die Einladung, in Ungewisse hinüberzuwechseln, ohne zu wissen, wohin es uns führt. Auch wenn Spiel oft als Handlung beschrieben wird, die an einem Objekt oder gegenüber anderen Spielern vollzogen wird, so ist es doch in gewissem Sinne ein Akt der Hingabe. Körper und Geist wird gestattet, sich ohne vorhersehbare Ergebnisse ins Unbekannte fallen zu lassen. Dieses „Unbekannte“ lässt sich auch als Möglichkeitsraum verstehen, als Universum all dessen, was sein könnte und der kreativen Verbindungen, die noch zu knüpfen sind. Spielen bedeutet, in diese Welt einzutreten, eine Ahnung zu bekommen, was alles möglich ist, und einen körperlichen Energietransfer vom Möglichen zum Wirklichen zu leisten. In diesem Prozess entsteht vielleicht eine Darbietung, ein Videospiel oder einfach ein gemeinsames, freudvolles Erlebnis.
Natürlich kann es auch beängstigend und anstrengend sein, die Grenzen des Bekannten hinter sich zu lassen. Genau deshalb ist es so wichtig, Strukturen zu haben, die Sicherheit und Vertrauen schaffen. Hier hilft die Konzentration, die sich aus der Beschränkung ergibt, denn sie lässt uns das Unbekannte verarbeiten, ohne von ihm überfordert zu werden. Und die klare Trennung zwischen Alltag und Spiel hilft, uns mental auf das Unbekannte einzustellen.
Wie Rachel Shields in ihrem Beitrag zum American Journal of Play vorschlägt, bildet der menschliche Körper die Schnittstelle zwischen der dinglichen Welt und der unendlichen Welt der Möglichkeiten, und Spiel ist die Verwirklichung dieser Möglichkeiten. Sichere Räume für das Spiel ergeben sich dort, wo das Unbekannte erkennbar, das Unheimliche vertraut, und individuelle sowie gesellschaftliche Transformation zu einem Akt der Freude werden. Wenn dies geschieht, erscheint es wie das Natürlichste der Welt, durch Spiel Zugang zur Energie des Unbekannten zu gewinnen. Es fühlt sich dann beinahe so an, als drängten Körper und Geist darauf, sich in diese Richtung weiterzuentwickeln. Dies mag ein Grund sein, warum sich Spielen so gut anfühlt und so viel Freude macht.
Beim Spiel arbeiten wir an der Weltsicht, die all unseren Handlungen zugrunde liegt. Wir verändern unsere Perspektive, um Bereiche zu entdecken und auszubauen, in denen sich unsere eigene und fremde Sichtweisen überschneiden. Wir stellen uns das Unbekannte vor und lassen es so Wirklichkeit werden. Unser Körper als Schnittstelle für all diese Dinge ist die ultimative erneuerbare Energiequelle, und Spiel ist der Katalysator, der sie erschließt. Die Frage ist, wo, wann und wie wir Strukturen finden und schaffen können, die diese gewaltigen, durchs Spiel ermöglichten Verwandlungen unterstützen.